Schnit­zel­jagd

Als tech­no­phi­ler Bast­ler, Tüft­ler und mu­sea­ler Be­wah­rer tust Du Dich oft schwer, Dich von Dei­nen his­to­ri­schen Hab­se­lig­kei­ten zu tren­nen, und auch die vom Floh­markt aus Igno­ran­ten­hand ge­ret­te­ten Ge­rät­schaf­ten sind Dir meist schnell ans Herz ge­wach­sen. Mehr als die ei­ne gut er­hal­te­ne Ton­band­ma­schi­ne – spät er­füll­ter Traum aus ju­ve­ni­len Jah­ren – brauchst aber selbst Du im Di­gi­tal­zeit­al­ter nicht wirk­lich, des­halb hat­test Du in den Wei­ten des In­ter­nets ein gu­tes neu­es Herr­chen für sie ge­sucht. Und als der vir­tu­el­le Auk­ti­ons­ham­mer dann end­lich ge­fal­len war, bist Du er­freut und er­leich­tert ge­we­sen, ließ doch der Zu­schlags­preis den ech­ten Lieb­ha­ber hin­ter dem statt­li­chen Ge­bot er­ah­nen...

Objekte der Begierde: Styroporchips sind die idealen Lückenfüller (Foto: Ralph Stenzel)

Und der ist wie Du von der schnel­len Trup­pe: Bin­nen Ta­ges­frist ist das Geld auf Dei­nem Kon­to ein­ge­gan­gen, und statt wie er­hofft über’s Wo­chen­en­de Zeit zum sorg­fäl­ti­gen Ver­pa­cken des schwe­ren Ap­pa­ra­tes zu ha­ben, siehst Du Dich jetzt in Dei­ner Ehr­pus­se­lig­keit ver­pflich­tet, das Ge­rät noch an heu­ti­gen Frei­tag Nach­mit­tag zur Post zu schaf­fen. Na gut, denkst Du Dir, das soll­te zu schaf­fen sein, den pas­sen­den Kar­ton hast Du ja schon längst or­ga­ni­siert und oben auf dem Dach­bo­den müß­ten noch zwei gel­be Sä­cke mit gut ab­ge­la­ger­ten Sty­ro­por­schnit­zeln in der Ecke ste­hen.

In der schwü­len Hit­ze des Spei­cher­ab­tei­les fin­dest Du ver­gil­ben­de Steu­er­erklä­run­gen und lee­re Mar­me­la­den­glä­ser, al­lein die ver­ma­le­dei­ten Sty­ro­por­chips sind nicht auf­zu­trei­ben. Lang­sam däm­mert es Dir, daß Du die schon vor Mo­na­ten bei ei­nem Dei­ner letz­ten Deals auf­ge­braucht und Dich seit­her nicht um Er­satz ge­küm­mert hat­test. Mist. Was tun? Zer­knüll­tes Zei­tungs­pa­pier ist kei­ne Lö­sung bei La­de­gut jen­seits der 15-Ki­lo-Gren­ze, stau­ben­de Holz­wol­le wä­re Gift für das fei­ne Ge­rät, mal ganz da­von ab­ge­se­hen, daß da­von längst auch nichts mehr da wä­re. Es hilft nichts, es müs­sen Sty­ro­por­chips sein. Aber wo­her neh­men?

Da kommt Dir der er­lö­sen­de Ge­dan­ke: Im Re­cy­cling­hof am Ran­de der Stadt hast Du vor Jah­ren schon ein­mal nach die­sen Din­gern ge­fragt, und der freund­li­che Mann in der Latz­ho­se hat Dich sei­ner­zeit nach Gus­to zu­grei­fen las­sen. War­um soll­te das nicht auf’s Neue funk­tio­nie­ren? Du schielst nach der Uhr: Mit­tag ist schon durch, es geht auf zwei Uhr zu, müß­te hin­hau­en. Al­so zum mo­to­ri­sier­ten Un­ter­satz hin­un­ter­ge­rannt und los­ge­braust...

Der Re­cy­cling­hof er­weist sich als noch am frü­he­ren Ort vor­han­den, sein Tor in­des­sen als ge­schlos­sen: Frei­tags ist hier schon um ein Uhr nach­mit­tags Fei­er­abend. Ver­flixt! Wo kannst Du jetzt noch hin, in die Nach­bar­stadt viel­leicht? Da wüß­test Du nicht mal die ein­schlä­gi­gen Adres­sen, und die Zeit ar­bei­tet in je­dem Fal­le ge­gen Dich. Hm. Er­for­dern nicht be­son­de­re Si­tua­tio­nen zu­wei­len be­son­de­re Maß­nah­men? Du könn­test Dich ja zur Not aus­nahms­wei­se selbst be­die­nen, oder? Du wür­dest nie­man­dem et­was weg­neh­men, kei­ner kä­me zu Scha­den und ein er­neu­ter Ein­satz von Füll­ma­te­ri­al ist al­le­mal um­welt­freund­li­cher als sei­ne noch so vor­schrifts­mä­ßi­ge Ent­sor­gung! He­he.

Du schaust Dich in al­le Rich­tun­gen um und peilst dann durch ei­nen Schlitz in der aus gro­ben Holz­boh­len er­rich­te­ten Um­zäu­nung: Tat­säch­lich, da­hin­ten ste­hen die Be­häl­ter mit den sor­ten­rein ge­trenn­ten Kunst­stof­fen! Und wenn man sich so die gan­zen Spu­ren und Ab­drü­cke an der Um­frie­dung an­schaut, dann wä­rest Du bei­lei­be nicht der Ers­te, der hier hin­über­ge­klet­tert ist. Und die an­de­ren ver­folg­ten mut­maß­lich weit we­ni­ger heh­re Zie­le...

Zwar bist Du nie der Sport­lichs­te ge­we­sen, aber der Ad­re­na­lin­schub des schlech­ten Ge­wis­sens und die Angst vor Ent­de­ckung stei­gern die Mus­kel­leis­tung spür­bar, men­ta­les Do­ping so­zu­sa­gen. Drü­ben halb­wegs ele­gant ge­lan­det, si­cherst Du nach al­len Sei­ten, be­vor Du in die of­fe­ne Hal­le sprin­test. Und plötz­lich wähnst Du Dich am Ziel: Vor Dir hängt in ei­nem stüt­zen­den Ei­sen­ge­stell ein rie­si­ger Sack aus di­cker Plas­tik­fo­lie, zu zwei Drit­tel ge­füllt mit den er­sehn­ten Sty­ro-Flo­cken: Hur­ra!

Du ziehst die zwei mit­ge­brach­ten Müll­beu­tel aus den Ho­sen­ta­schen und über­legst, wie Du die denn nun am schnells­ten voll­kriegst. Ei­ne Schip­pe oder sonst et­was Ge­eig­ne­tes ist nicht in Sicht, dar­um ver­suchst Du so­gleich, die fe­der­leich­ten Schnip­sel­din­ger mit blo­ßen Hän­den in Dei­ne Beu­tel zu stop­fen. Aber die las­sen sich nicht so mir nichts, Dir nichts um­sa­cken: Im Nu ha­ben sie sich elek­tro­sta­tisch auf­ge­la­den und »kle­ben« jetzt an ih­ren Kum­pels, an ih­rem gro­ßen Sack, an Dei­nen lä­cher­li­chen Tü­ten und mitt­ler­wei­le auch an Dei­nen Ar­men und auf Dei­nem T‑Shirt. Und je mehr Du zap­pelst und stram­pelst und fluchst, des­to schlim­mer wird das Spiel: Du kriegst die Chips nicht in nen­nens­wer­ten Men­gen zu fas­sen, und je är­ger Du Dich an­strengst, des­to mehr von ih­nen haf­ten an Dir und sonst­wor­an.

Nach zwei Mi­nu­ten he­ro­isch ge­führ­ten Kamp­fes mit der Tü­cke der Ob­jek­te siehst Du end­lich ein, daß das so de­fi­ni­tiv nichts wer­den kann. Es bleibt als Aus­weg nur die Flucht nach vorn: Du mußt den gan­zen Be­stand in sei­nem rie­si­gen Auf­fang­sack mit­neh­men, sonst stehst Du am Mon­tag­mor­gen noch hier und bist bis da­hin ers­tens wahn­sin­nig und zwei­tens so sty­ro­por-weiß wie ein Schnee­mann. Ge­sagt, ge­tan: Du rollst den Rand des ge­ra­de­zu un­heim­lich gro­ßen Fo­li­en­sa­ckes über das Hal­te­ge­stell, drehst ihn zu und ziehst den fast manns­ho­hen »Bal­lon« nach oben aus sei­ner Fi­xie­rung...

Na groß­ar­tig, denkst Du Dir, jetzt fehlt Dir nur noch ei­ne schwar­ze Au­gen­mas­ke, dann sä­hest Du aus wie ei­ner der Pan­zer­kna­cker aus den Do­nald-Duck-Heft­chen. Har, har, har! Oder auch ho, ho, ho, denn mit dem di­cken Sack auf dem Rü­cken gä­best Du auch ei­ne gu­te Ka­ri­ka­tur ei­nes US-ame­ri­ka­ni­schen Weih­nachts­man­nes ab! Doch auch oh­ne San­ta Clau­sens dich­ten Bart und di­cken Pelz­man­tel rinnt Dir der Schweiß mitt­ler­wei­le aus al­len Po­ren...

Du lugst ver­stoh­len von in­nen über die Boh­len­wand und peilst die La­ge: rechts ist nie­mand, von links kommt kei­ner. Al­so ab durch die Mit­te bzw. erst­mal er­neut über die Wand ge­klet­tert und mit dem Rie­sen­beu­tel hin­ab­ge­sprun­gen. Schnell zum Wa­gen ge­has­tet und die Heck­klap­pe auf­ge­fin­gert. Rein mit dem Sack, zum Hen­ker, war­um sperrt der sich so da­ge­gen? Es hilft nichts, der ku­gel­run­de Plas­tik­beu­tel ist zwar nicht schwer, aber aus­la­dend, sein Durch­mes­ser deut­lich grö­ßer als der von Dei­nes Au­tos La­de­öff­nung. Herr­schafts­zei­ten!

Ner­vö­ses Stop­fen und Tre­ten hilft nicht wei­ter, mit for­scher Ge­walt­an­wen­dung bringst Du die pral­le Fo­li­en­bla­se nur zum Plat­zen und dann er­gießt sich der Se­gen weit­hin sicht­bar über die Land­schaft, mit Dir als dem Übel­tä­ter mit­ten­drin. Al­so tief Luft ge­holt, den Sack noch­mal ganz her­aus­ge­zo­gen und mit sanf­tem Tät­scheln links und rechts lang­sam in die rich­ti­ge Wurst­form ge­klopft. Nach ei­ner quä­lend lan­gen Mi­nu­te ist er end­lich drin. Klap­pe zu, hinter’s Steu­er ge­hech­tet und den Mo­tor an­ge­las­sen. Am Rü­cken bist Du längst pitschnaß.

Der re­flex­haf­te Blick in den Rück­spie­gel zeigt nicht die ge­wohn­te Aus­sicht durch die Heck­schei­be, son­dern en­det nach ei­nem gu­ten Me­ter am so­eben hin­ten rein­ge­stopf­ten Beu­te­gut. Na schön, dann muß man halt mit den Au­ßen­spie­geln ma­nö­vrie­ren. Aber be­wegt sich da nicht et­was im lin­ken? Der Blick trügt nicht, es naht ein an­de­res Au­to. Ver­flucht noch­mal, was will der denn hier um die­se Zeit?

Ir­gend­wie kriegst Du die Kur­ve ge­kratzt und schaffst um ei­ne al­te La­ger­hal­le her­um den Ab­gang, oh­ne daß Dir der an­de­re Wa­gen zu na­he ge­kom­men wä­re. Jetzt aber flott wie­der nach Hau­se! Im Fond hin­ter Dir klop­fen an die 20.000 ent­führ­te Weich­schaum­schnip­sel um Hil­fe ru­fend an die Sei­ten­schei­ben und ver­su­chen stumm schrei­end, Pas­san­ten auf sich auf­merk­sam zu ma­chen. So hal­tet doch end­lich die Klap­pe! Schließ­lich fährst Du schnei­dig brem­send vor Dei­ner Haus­tür vor.

Der Sack wirkt auf den ers­ten Blick jetzt et­was fla­cher. Kein Wun­der, durch die Er­schüt­te­run­gen der Fahrt hat er sich dem In­nen­raum Dei­nes Ve­hi­kels gut an­ge­paßt und mag ihn frei­wil­lig nicht mehr ver­las­sen. Du fluchst lei­se und zerrst ze­ternd an dem dum­men Ding, bis Du es end­lich halb­wegs heil her­aus­ope­riert hast. Au­to­klap­pe zu und nun aber schnell ins Haus und weg aus der Öf­fent­lich­keit!

Von we­gen: Prall und ku­gel­rund wie der Sack mitt­ler­wei­le wie­der ge­wor­den ist, paßt er na­tür­lich auch nicht ein­fach so durch die Haus­tür! Lei­se wim­mernd mußt Du ihn ein wei­te­res Mal mas­sie­ren, bis er sich end­lich in den Haus­flur schie­ben läßt. Ir­gend­wie ge­lingt es Dir, ihn dann noch drei Stock­wer­ke nach oben zu ba­lan­cie­ren, oh­ne ir­gend­wel­che Pflan­zen um­zu­kip­pen oder sons­ti­ge Ka­ta­stro­phen an­zu­rich­ten. Ge­schafft! Jetzt als al­ler­ers­tes schnell un­ter die Du­sche ge­sprun­gen um Schweiß und Schuld­ge­füh­le ab­zu­wa­schen...

Frisch duf­tend fühlst Du dich schon wie­der deut­lich woh­ler. Bin­nen ei­ner knap­pen Vier­tel­stun­de ist die fei­ne Ton­band­ma­schi­ne bes­tens ver­packt und reich­lich ge­gen jeg­li­che Trans­port­fähr­nis­se ab­ge­fe­dert. Es geht doch nichts über die fle­xi­blen Sty­ro­por­schnit­zel, denkst Du dir, und in den nächs­ten paar Jah­ren brauchst Du Dir auch kei­ner­lei Sor­gen um Nach­schub zu ma­chen. Mit ge­üb­ter Hand läßt Du den Kle­be­band-Ab­rol­ler um das Pa­ket sau­sen, si­cher­heits­hal­ber noch ein zwei­tes Mal um sämt­li­che Fal­ze. Dann flugs die Pa­ket­kar­te aus­ge­füllt und run­ter mit der Kis­te zum Au­to. Na al­so, es wird doch!

Ge­las­sen fährst Du an der Post­agen­tur vor, es ist noch ei­ne gu­te Stun­de bis zum La­den­schluß. Du wuch­test den schwe­ren Klotz auf die Waa­ge, schä­kerst noch ein biß­chen mit der Stem­pel­schwin­ge­rin und fragst sie ver­wun­dert, war­um wohl heu­te so we­nig an­de­re Pa­ke­te auf der Roll­pa­let­te stün­den. Weil das Pa­ket­au­to heu­te schon durch ist, sagt sie zu Dei­nem jä­hen Ent­set­zen. Un­ter dem scha­den­froh-höh­ni­schen Ge­läch­ter der auf­ge­sta­pel­ten Te­le­fon­bü­cher schleichst Du Dich aus dem Schal­ter­raum und aus der Af­fä­re...

 
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