Als technophiler Bastler, Tüftler und musealer Bewahrer tust Du Dich oft schwer, Dich von Deinen historischen Habseligkeiten zu trennen, und auch die vom Flohmarkt aus Ignorantenhand geretteten Gerätschaften sind Dir meist schnell ans Herz gewachsen. Mehr als die eine gut erhaltene Tonbandmaschine – spät erfüllter Traum aus juvenilen Jahren – brauchst aber selbst Du im Digitalzeitalter nicht wirklich, deshalb hattest Du in den Weiten des Internets ein gutes neues Herrchen für sie gesucht. Und als der virtuelle Auktionshammer dann endlich gefallen war, bist Du erfreut und erleichtert gewesen, ließ doch der Zuschlagspreis den echten Liebhaber hinter dem stattlichen Gebot erahnen...
Und der ist wie Du von der schnellen Truppe: Binnen Tagesfrist ist das Geld auf Deinem Konto eingegangen, und statt wie erhofft über’s Wochenende Zeit zum sorgfältigen Verpacken des schweren Apparates zu haben, siehst Du Dich jetzt in Deiner Ehrpusseligkeit verpflichtet, das Gerät noch an heutigen Freitag Nachmittag zur Post zu schaffen. Na gut, denkst Du Dir, das sollte zu schaffen sein, den passenden Karton hast Du ja schon längst organisiert und oben auf dem Dachboden müßten noch zwei gelbe Säcke mit gut abgelagerten Styroporschnitzeln in der Ecke stehen.
In der schwülen Hitze des Speicherabteiles findest Du vergilbende Steuererklärungen und leere Marmeladengläser, allein die vermaledeiten Styroporchips sind nicht aufzutreiben. Langsam dämmert es Dir, daß Du die schon vor Monaten bei einem Deiner letzten Deals aufgebraucht und Dich seither nicht um Ersatz gekümmert hattest. Mist. Was tun? Zerknülltes Zeitungspapier ist keine Lösung bei Ladegut jenseits der 15-Kilo-Grenze, staubende Holzwolle wäre Gift für das feine Gerät, mal ganz davon abgesehen, daß davon längst auch nichts mehr da wäre. Es hilft nichts, es müssen Styroporchips sein. Aber woher nehmen?
Da kommt Dir der erlösende Gedanke: Im Recyclinghof am Rande der Stadt hast Du vor Jahren schon einmal nach diesen Dingern gefragt, und der freundliche Mann in der Latzhose hat Dich seinerzeit nach Gusto zugreifen lassen. Warum sollte das nicht auf’s Neue funktionieren? Du schielst nach der Uhr: Mittag ist schon durch, es geht auf zwei Uhr zu, müßte hinhauen. Also zum motorisierten Untersatz hinuntergerannt und losgebraust...
Der Recyclinghof erweist sich als noch am früheren Ort vorhanden, sein Tor indessen als geschlossen: Freitags ist hier schon um ein Uhr nachmittags Feierabend. Verflixt! Wo kannst Du jetzt noch hin, in die Nachbarstadt vielleicht? Da wüßtest Du nicht mal die einschlägigen Adressen, und die Zeit arbeitet in jedem Falle gegen Dich. Hm. Erfordern nicht besondere Situationen zuweilen besondere Maßnahmen? Du könntest Dich ja zur Not ausnahmsweise selbst bedienen, oder? Du würdest niemandem etwas wegnehmen, keiner käme zu Schaden und ein erneuter Einsatz von Füllmaterial ist allemal umweltfreundlicher als seine noch so vorschriftsmäßige Entsorgung! Hehe.
Du schaust Dich in alle Richtungen um und peilst dann durch einen Schlitz in der aus groben Holzbohlen errichteten Umzäunung: Tatsächlich, dahinten stehen die Behälter mit den sortenrein getrennten Kunststoffen! Und wenn man sich so die ganzen Spuren und Abdrücke an der Umfriedung anschaut, dann wärest Du beileibe nicht der Erste, der hier hinübergeklettert ist. Und die anderen verfolgten mutmaßlich weit weniger hehre Ziele...
Zwar bist Du nie der Sportlichste gewesen, aber der Adrenalinschub des schlechten Gewissens und die Angst vor Entdeckung steigern die Muskelleistung spürbar, mentales Doping sozusagen. Drüben halbwegs elegant gelandet, sicherst Du nach allen Seiten, bevor Du in die offene Halle sprintest. Und plötzlich wähnst Du Dich am Ziel: Vor Dir hängt in einem stützenden Eisengestell ein riesiger Sack aus dicker Plastikfolie, zu zwei Drittel gefüllt mit den ersehnten Styro-Flocken: Hurra!
Du ziehst die zwei mitgebrachten Müllbeutel aus den Hosentaschen und überlegst, wie Du die denn nun am schnellsten vollkriegst. Eine Schippe oder sonst etwas Geeignetes ist nicht in Sicht, darum versuchst Du sogleich, die federleichten Schnipseldinger mit bloßen Händen in Deine Beutel zu stopfen. Aber die lassen sich nicht so mir nichts, Dir nichts umsacken: Im Nu haben sie sich elektrostatisch aufgeladen und »kleben« jetzt an ihren Kumpels, an ihrem großen Sack, an Deinen lächerlichen Tüten und mittlerweile auch an Deinen Armen und auf Deinem T‑Shirt. Und je mehr Du zappelst und strampelst und fluchst, desto schlimmer wird das Spiel: Du kriegst die Chips nicht in nennenswerten Mengen zu fassen, und je ärger Du Dich anstrengst, desto mehr von ihnen haften an Dir und sonstworan.
Nach zwei Minuten heroisch geführten Kampfes mit der Tücke der Objekte siehst Du endlich ein, daß das so definitiv nichts werden kann. Es bleibt als Ausweg nur die Flucht nach vorn: Du mußt den ganzen Bestand in seinem riesigen Auffangsack mitnehmen, sonst stehst Du am Montagmorgen noch hier und bist bis dahin erstens wahnsinnig und zweitens so styropor-weiß wie ein Schneemann. Gesagt, getan: Du rollst den Rand des geradezu unheimlich großen Foliensackes über das Haltegestell, drehst ihn zu und ziehst den fast mannshohen »Ballon« nach oben aus seiner Fixierung...
Na großartig, denkst Du Dir, jetzt fehlt Dir nur noch eine schwarze Augenmaske, dann sähest Du aus wie einer der Panzerknacker aus den Donald-Duck-Heftchen. Har, har, har! Oder auch ho, ho, ho, denn mit dem dicken Sack auf dem Rücken gäbest Du auch eine gute Karikatur eines US-amerikanischen Weihnachtsmannes ab! Doch auch ohne Santa Clausens dichten Bart und dicken Pelzmantel rinnt Dir der Schweiß mittlerweile aus allen Poren...
Du lugst verstohlen von innen über die Bohlenwand und peilst die Lage: rechts ist niemand, von links kommt keiner. Also ab durch die Mitte bzw. erstmal erneut über die Wand geklettert und mit dem Riesenbeutel hinabgesprungen. Schnell zum Wagen gehastet und die Heckklappe aufgefingert. Rein mit dem Sack, zum Henker, warum sperrt der sich so dagegen? Es hilft nichts, der kugelrunde Plastikbeutel ist zwar nicht schwer, aber ausladend, sein Durchmesser deutlich größer als der von Deines Autos Ladeöffnung. Herrschaftszeiten!
Nervöses Stopfen und Treten hilft nicht weiter, mit forscher Gewaltanwendung bringst Du die pralle Folienblase nur zum Platzen und dann ergießt sich der Segen weithin sichtbar über die Landschaft, mit Dir als dem Übeltäter mittendrin. Also tief Luft geholt, den Sack nochmal ganz herausgezogen und mit sanftem Tätscheln links und rechts langsam in die richtige Wurstform geklopft. Nach einer quälend langen Minute ist er endlich drin. Klappe zu, hinter’s Steuer gehechtet und den Motor angelassen. Am Rücken bist Du längst pitschnaß.
Der reflexhafte Blick in den Rückspiegel zeigt nicht die gewohnte Aussicht durch die Heckscheibe, sondern endet nach einem guten Meter am soeben hinten reingestopften Beutegut. Na schön, dann muß man halt mit den Außenspiegeln manövrieren. Aber bewegt sich da nicht etwas im linken? Der Blick trügt nicht, es naht ein anderes Auto. Verflucht nochmal, was will der denn hier um diese Zeit?
Irgendwie kriegst Du die Kurve gekratzt und schaffst um eine alte Lagerhalle herum den Abgang, ohne daß Dir der andere Wagen zu nahe gekommen wäre. Jetzt aber flott wieder nach Hause! Im Fond hinter Dir klopfen an die 20.000 entführte Weichschaumschnipsel um Hilfe rufend an die Seitenscheiben und versuchen stumm schreiend, Passanten auf sich aufmerksam zu machen. So haltet doch endlich die Klappe! Schließlich fährst Du schneidig bremsend vor Deiner Haustür vor.
Der Sack wirkt auf den ersten Blick jetzt etwas flacher. Kein Wunder, durch die Erschütterungen der Fahrt hat er sich dem Innenraum Deines Vehikels gut angepaßt und mag ihn freiwillig nicht mehr verlassen. Du fluchst leise und zerrst zeternd an dem dummen Ding, bis Du es endlich halbwegs heil herausoperiert hast. Autoklappe zu und nun aber schnell ins Haus und weg aus der Öffentlichkeit!
Von wegen: Prall und kugelrund wie der Sack mittlerweile wieder geworden ist, paßt er natürlich auch nicht einfach so durch die Haustür! Leise wimmernd mußt Du ihn ein weiteres Mal massieren, bis er sich endlich in den Hausflur schieben läßt. Irgendwie gelingt es Dir, ihn dann noch drei Stockwerke nach oben zu balancieren, ohne irgendwelche Pflanzen umzukippen oder sonstige Katastrophen anzurichten. Geschafft! Jetzt als allererstes schnell unter die Dusche gesprungen um Schweiß und Schuldgefühle abzuwaschen...
Frisch duftend fühlst Du dich schon wieder deutlich wohler. Binnen einer knappen Viertelstunde ist die feine Tonbandmaschine bestens verpackt und reichlich gegen jegliche Transportfährnisse abgefedert. Es geht doch nichts über die flexiblen Styroporschnitzel, denkst Du dir, und in den nächsten paar Jahren brauchst Du Dir auch keinerlei Sorgen um Nachschub zu machen. Mit geübter Hand läßt Du den Klebeband-Abroller um das Paket sausen, sicherheitshalber noch ein zweites Mal um sämtliche Falze. Dann flugs die Paketkarte ausgefüllt und runter mit der Kiste zum Auto. Na also, es wird doch!
Gelassen fährst Du an der Postagentur vor, es ist noch eine gute Stunde bis zum Ladenschluß. Du wuchtest den schweren Klotz auf die Waage, schäkerst noch ein bißchen mit der Stempelschwingerin und fragst sie verwundert, warum wohl heute so wenig andere Pakete auf der Rollpalette stünden. Weil das Paketauto heute schon durch ist, sagt sie zu Deinem jähen Entsetzen. Unter dem schadenfroh-höhnischen Gelächter der aufgestapelten Telefonbücher schleichst Du Dich aus dem Schalterraum und aus der Affäre...
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